Das waren doch gute Jahre. Viele gute Jahre. Warum sollten wir etwas verändern wollen? Können wir nicht einfach unsere Welt aus den 10er Jahren wiederhaben? Bitte? Marcel Fratzscher sagt: Seien wir ehrlich zu uns. Wir haben nicht die Wahl, ob wir uns verändern oder ob nicht. Wir können einzig entscheiden, ob wir unseren Wunsch nach Stabilität etwas zurückschrauben und unser Streben nach Perfektion gegen eine Trial&Error-Haltung auswechseln. Die Konsequenzen liegen auf der Hand: Andere Länder werden sich transformieren, allen voran China und die USA. Damit werden auch viele gute Jobs, Arbeit und Wohlstand abwandern. Letztlich müssen wir uns trotzdem transformieren, haben aber das Problem zwischenzeitlich noch vergrößert.

Marcel Fratzscher ist Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW). Ein zentraler Gedanke, den wir im Podcast diskutieren: Es kann nicht mehr um reines Wachstum gehen. Wir brauchen eine neue Perspektive: Wohlstand. Wirtschaftswissenschaft und Politik sind viel zu sehr auf das Wachstum, das Bruttoinlandsprodukt fixiert. Allerdings betont Marcel, hier messe man ganz enges Feld, das herzlich wenig mit Wohlstand direkt zu tun hat. Dafür ist es einfach und damit verlockend. Einfache Botschaften, einfache Kennzahlen sind viel einfacher zu transportieren: „Wir müssen das Wachstum maximieren!“ Wohl wissend, dass das nicht das Ziel sein kann.

Marcel verweist auf den Wiederaufbau im Ahrtal. Auf dem Papier ein gewaltiges Wirtschaftswachstum in der Region. Nur Wohlstand entsteht dabei nicht, wir laufen nur zerstörtem Wohlstand hinterher. Die Komplexität von Wohlstand macht es allerdings schwierig, sich der Frage zu stellen, was Menschen, Wirtschaft und Gesellschaft wirklich gut tut.

Marcel sieht die Wirtschaftswissenschaft hier in der Verantwortung. Seiner Beobachtung nach wird sie dieser nicht ausreichend gerecht. Viel zu oft hängt sie noch an den alten Konzepten von Wachstum und Produktion – als wäre die Verteilung des Kuchens völlig egal, als stehe nur die Maximierung im Vordergrund. Da hat sich die internationale Forschung auch verändert und Deutschland eher hinten dran. Er sagt: Wir müssen die Menschen stärker involvieren, da müssen wir auch in der Wissenschaft besser werden.

Seine Sorge: Wir werden scheitern, wenn wir die Menschen nicht mitnehmen. Scheitern bei allen großen Veränderungen, beim Klimaschutz, bei der Digitalisierung, wenn es uns nicht gelingt, soziale Akzeptanz zu schaffen. Beispiel Klimageld: Die Bundesregierung hat den CO2-Preis eingeführt und versprochen, die Einnahmen vollständig an die Bevölkerung zurückzugeben. Passiert aber nicht. Wir haben kaum Zeit für die Veränderung, brauchen schnelle Entscheidungen und Umsetzungen - und wenn die Menschen nicht mitmachen, werden diese Prozesse in einer Demokratie nicht gelingen. Hier kritisiert Marcel die Politik insgesamt: Sie vergisst die Menschen, vor allem diejenigen, die von Veränderungen wie der Inflation am stärksten betroffen sind und am wenigsten davor schützen können.

Stattdessen schützt die Politik oft einzelne Unternehmen, subventioniert sie, päppelt sie durch, damit wir bloß so weitermachen können wie früher. Das ist kontraproduktiv. Denn auch die Wirtschaft braucht Veränderung. Eine Wirtschaft kann nur erfolgreich sein, wenn sie auch kreative Zerstörung zulässt. Es muss etwas verschwinden, damit etwas neues entstehen kann, auch neue Unternehmen. Insofern sind auch Insolvenzen notwendig, damit neue Ideen ihren Platz finden. Marcel formuliert seine Sorge: Da sind wir aber noch nicht. Unser Denken ist immer noch: Wir müssen das Alte zementieren.

Zu Gast: Marcel Fratzscher, Wissenschaftler, Autor und Kolumnist zu wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Themen, Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin) und Professor für Makroökonomie an der Humboldt-Universität zu Berlin.