Wir müssen über den Krieg reden. Immer noch. Ein Gegenwartsthema, wie aus einer vergangenen Zeit - und doch werden gerade die Grundlagen für die Zukunft gelegt, in großem Maßstab. Klaus Gestwa sagt: Seit Anfang 2023 erleben wir einen Zermürbungskrieg, wie wir ihn eigentlich nur aus den beiden Weltkriegen kannten, ergänzt um moderne Kriegstechnik und Live-Bilder via Social Media. Eine Situation, mit der wir noch gar nicht wirklich umgehen können. Klaus ist Professor an der Universität Tübingen und leitet dort das Institut für Osteuropäische Geschichte und Landeskunde.
Erste Frage: Wann wird das Kämpfen aufhören? Klaus betont: Aktuell glauben beide Seiten, militärisch etwas erreichen zu können. Die Einsicht „jetzt geht nichts mehr“ steht noch aus. Insofern wird es 2024 nichts mit einer Waffenruhe. Er betont aber auch, wer der Aggressor ist: Wenn Putin seine Soldaten zurückzieht, wird der Krieg morgen vorbei sein. Der Putinismus sieht das allerdings nicht. Die Einsicht in die Notwendigkeit einer politischen Umkehr ist fern; der Herrscher im Kreml wähnt sich auf einer historischen Mission. Insofern bleibt als einzig plausibler Weg zu Waffenstillstand und Verhandlungen, Russland militärisch mindestens auf Augenhöhe zu begegnen. Und dann folgt ein sehr bitterer Verhandlungsprozess.
Die politischen Eliten Russlands haben sich hinter Putin versammelt, so Klaus. Es ist Russlands Krieg, nicht allein Putins. Entsprechend können wir von außen auch nur bedingt einwirken, nur die Rahmenbedingungen setzen. Wer zwischenzeitlich auf die russische Zivilgesellschaft gehofft hatte, muss erkennen, dass sie sich im Würgegriff des Putin-Regimes befindet. Propaganda wirkt eben und die Hoffnung auf gesellschaftliche Gegenkräfte ist eine Illusion. Die Kreml-Eliten müssen einsehen, dass Putin das Problem ist. Und das in so großer Zahl, dass sie nicht direkt aus dem Fenster fallen.
Michael und Klaus diskutieren die absehbaren Konsequenzen des Kriegs für die Opfer. Noch nie war eine so große Fläche vermint wie heute in der Ukraine. Die Minen zu entfernen, wird Jahre brauchen. Infrastruktur, Industrie, allein die Umweltschäden sprengen unsere Vorstellungskraft. In der Ukraine sind bereits heute größte Mengen unterschiedlichster Giftstoffe aus Deponien und Industriebetrieben in die Umwelt geraten. Und „in die Umwelt“ bedeutet am Ende „in die Menschen“. Hinzu kommen die psychischen Folgen. Klaus zeichnet ein düsteres Bild von dem Ausmaß an PTBS, der posttraumatischen Belastungsstörung. An ihr leiden in und nach anderen Krieg ein Drittel der Soldaten und Soldatinnen - und zahllose Zivilist:innen. Es wird eines Kraftakts der Ukraine bedürfen, nach einem Waffenstillstand wieder zu gesunden und als Gesellschaft auf Dauer lebensfähig zu sein.
Zu Gast: Professor Dr. Klaus Gestwa, Direktor des Instituts für Osteuropäische Geschichte und Landeskunde an der Universität Tübingen
Die Universität Tübingen hat Prof. Dr. Klaus Gestwa mit dem Preis für Wissenschaftskommunikation ausgezeichnet (2/2024).
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